Der gewaltsamste Akt der Männer in meinem Umfeld ist das Zerklatschen von Lebensmittelmotten.
Und doch gibt es sie, die gewalttätigen Männer, für die wir sie nicht gehalten haben: Johnny Depp, Kevin Spacey, zuletzt Jonah Hill.
„Männer-Skandale ohne Ende“, schreibt die Süddeutsche. Aber fernab von den Stars da oben, ist nicht weniger bemerkenswert, dass diese Männer längst auf unseren Sofas sitzen: Laut einer Umfrage finden 30 % der Männer Gewalt in der Partnerschaft okay. Laut BKA wurden 2022 8,5 % mehr Fälle häuslicher Gewalt gemeldet, „65,6 % der Opfer (157.818) waren von Partnerschaftsgewalt betroffen”.
Über die Aussagekraft dieser Umfragen und Studien ließe sich an anderer Stelle diskutieren – zum Beispiel darüber, ob es nicht gut ist, dass mehr Fälle gemeldet werden (also auch mehr Fälle zur Anzeige gebracht werden, die Dunkelziffer niedriger ist).
Abgesehen von meinem direkten Umfeld sind Männer, die mehr als Motten zerklatschen, in meinem Leben – und ich würde behaupten auch in eurem – natürlich längst zur Normalität geworden: Ich spreche von den physisch gewalttätigen Männern in unseren Laptops, Fernsehern, Smartphones.
Er meint das nicht so
Denn gewaltsames Verhalten fiktiver Charaktere dulden wir alle oft und gerne.
Mehr noch: Viele Serien der letzten 20 Jahre, in denen gewalttätige Männer die Hauptrolle spielen, sind preisgekrönt: Breaking Bad, Dexter, Game of Thrones, Vikings, Sons of Anarchy, Fargo.
Doch es sind nicht nur die „quality“-Serien – ein Begriff, der einen eigenen Newsletter wert wäre – sondern auch populärere Sendungen wie You.
Wie kommt es also, dass einige Menschen die dargestellte Gewalt akzeptieren – vielleicht sogar ein bisschen gut finden? Oder anders gefragt:
Warum musste ich letztens einen (Horror-)Film abbrechen, als der Protagonist anfing, eine Frau in der Mitte zu zersägen – aber nicht, als Dexter acht Staffeln lang seine Opfer mit Klebeband fixierte, um sie dann umzubringen, ebenfalls mit Kettensäge?
Grund 1: Wiedererkennungs-Effekt
In der Regel finden wir es toll, wie vielseitig Schauspieler*innen sind. Dass Leonardo DiCaprio Koks aus dem Hintern einer Sexarbeiterin schnupft und sich ein paar Jahre später nach einem Bärenangriff zurück ins Leben kämpft.
Dass Reese Witherspoon vor einiger Zeit „natürlich blond“ war und mittlerweile unter anderem als Drogenabhängige Selbstfindungstrips macht.
Es ist dabei gerade das Wissen um frühere Rollen, das den Effekt der überraschenden Wandlung verstärkt. Wir assoziieren Schauspieler*innen mit ihren bisherigen Arbeiten und das kann auch zum Nachteil sein. Nicht ohne Grund findet mensch Daniel Radcliffe noch Rupert Grint eher in Indie-Produktionen als großen Blockbustern. Weil sie eben immer Harry und Ron bleiben werden.
Und Serienschaffende machen sich dies zu Nutze.
Bryan Cranston ist ein prägnantes Beispiel. Viele, die mit 90er-Jahre-Fernsehen sozialisiert wurden, kennen ihn als untergebutterten Familienvater Hal von Malcolm in the Middle. Hal kann nichts richtig machen, seine Ehefrau dominiert ihn, er scheitert finanziell.
Er ist der weiße Mann der unteren Mittelschicht US-Amerikas, einer, den Soziologe Michael Kimmel vielleicht als Ausgangspunkt für den Angry White Man bezeichnen würde. Einen Typus Mann, der sich als Verlierer fühlt und als Gegenreaktion Hass entwickelt auf Frauen, queere Menschen und People of Color.
Doch Hal ist nicht wütend. Wütend ist Walter White, der Hal in vielen Dingen ähnelt und Cranstons vielleicht größte TV-Rolle darstellt: als Heisenberg, aufsteigender Drogenboss, Self-Made-Man, in Breaking Bad.
Die Identifizierung nutzen Serienmacher*innen, um Charaktere neuer Produkte schnell zu etablieren, Erwartungen bei Zuschauenden zu wecken – und um sie dann ggf. zu brechen. Denn Heisenberg ist längst nicht der gestresste, liebenswürdige Papa. Er wird zunehmend skrupelloser und rücksichtsloser, wenn auch natürlich brilliant und intelligent, in dem was er tut.
Wir halten trotzdem zu ihm: Wir wissen doch, wie schwer er es hat. Er ist der Archetyp eines Familienvaters, der einfach nur das Beste will, das wollte er als Hal, das will er als Heisenberg. So what, wenn er die Freundin seines Geschäftspartners ersticken lässt.
Was ist mit Joe Goldberg in You? Viele von uns haben den Schauspieler, der ihn verkörpert, zuerst als den süßen, schüchternen Dan aus Gossip Girl getroffen. Er war immer so ein guter Freund für Serena. Mensch.
Und kaum gealtert läuft er einige Jahre später als Stalker und Mörder durch die Gegend – aber nur, weil er seine love interests halt so sehr liebt. Und er will immer nur das Beste für sie – wie damals für Serena.
Ein letztes Beispiel: Auch dem Schauspieler des Hobbits Bilbo Beutlin (der vielleicht niedlichsten Kreatur im Herr-der-Ringe-Universum) Martin Freeman, können wir nicht böse sein, wenn er in Fargo um sich schießt, denn er ist ja ziemlich klein und schwach und wehrt sich bestimmt nur.
Grund 2: Eine Frage der (Kamera-)Perspektive
Jetzt wird es technisch, aber nicht zu sehr. Nicht verwunderlich ist, dass wir als Zuschauende dazu geneigt sind, vor allem zu den Charakteren zu halten, deren Innenleben und Beweggründe uns bekannt sind. Sie müssen die nicht aussprechen – wir sehen sie.
Besonders geeignet dafür sind Close-Ups, also Kameraaufnahmen, die das Gesicht des Charakters fokussieren. Jeder Anflug von Trauer, Scham und Wut kann in der Mimik nachvollzogen werden. Wir sind dazu geneigt, Empathie zu empfinden. Und uns umgekehrt herzlich wenig um die Charaktere zu kümmern, von denen wir fast nichts mitbekommen.
Besonders prägnant ist das zum Beispiel in einer Szene, in der Hauptcharakter Lester (Martin Freeman) in Fargo seine Frau umbringt. Er erschlägt sie mit einem Hammer. Während der Tötung – er schlägt oft auf sie ein, öfter als nötig – zeigt die Kamera ausschließlich ihn in Nahaufnahme. Seine Wut, Trauer, Verzweiflung.
[TW: Es folgen Screenshots mit Gewaltdarstellungen und Blut.]
Seine Frau hat ihn zuvor ständig niedergemacht, beleidigt und das hier, das ist seine Rache.
Sie wiederrum? Sehen wir erst, als sie regungslos am Boden liegt: Mit Blut überströmt, aber komplett ausdruckslos. Keine Anzeichen von Todesangst, von Verzweiflung, von irgendeiner menschlichen Regung.
Grund 3: Männer-Gewalt im Namen des Guten
Vielleicht kommen wir jetzt an den Punkt, an dem wir uns mal laut wundern dürfen: Warum gibt es überhaupt so krass viele Serien über gewalttätige Männer, die munter umhermorden, Bomben legen und Drogenkartelle gründen?!
Nun, es gibt einige Erklärungsversuche.
Besonders blutrünstige, ekelhafte Gewaltdarstellungen wurden im US-Amerikanischen Raum in Serien erst so richtig möglich, als sich die Sender veränderten.
Waren Sender zunächst Teile riesiger TV-Netzwerke, die sich durch große Werbepartner finanzierten und viele Menschen ansprechen wollten (Mütter! Kinder! Familien!), war es Kabelsendern zunehmend möglich, Inhalte zu erstellen, die bestimmten spezifischen Zuschauer*innengruppen gefielen (weiße cis-Männer z.B.).
Dort war mehr erlaubt und möglich. Die Serien wurden komplexer, freizügiger, kritischer, insgesamt diverser, vor allem aber auch: gewalttätiger.
Woran sich kulturwissenschaftliche Erklärungsversuche anschließen. Es ist auffällig, dass die idealisierte Darstellung von Männer-Gewalt zu einer Zeit ihren Höhepunkt erreicht, in der oft von einer vermeintlichen „Krise der Männlichkeit“ gesprochen wird.
Der Begriff der Krise ist problematisch (noch ein Newsletter); wichtiger ist es hier zu sagen, dass an der Deutungshoheit des weißen cis hetero Mannes aus der Mittelschicht gesägt wird, wie an der Frau in dem Horrorfilm, den ich abgebrochen habe.
Jetzt ist es aber so, dass zum Beispiel Dexter nicht explizit sagt: Mich nervt diese ganze Emanzipation und Migration; ich mach hier jetzt mal mein eigenes Justizsystem. Nein, er ja sogar einer der vermeintlich Guten. Bringt Serienmörder um und Sexualstraftäter.
Und Walter White lässt keinen Wagen auf der Pride hochgehen, sondern das Auto eines Börsenmaklers.
Joe Goldberg aus You will im Grunde auch nur wahre Liebe, die nicht von Dating-Apps und der Warenförmigkeit von Beziehungen im Spätkapitalismus verdorben ist.
Die physische Gewalt der Männer ist oft eben auch eine symbolische: Zerstört werden sollen Abhänigkeiten von unsicheren Finanz- und Justizsystemen, von einer ungerechten Politik und einer fortschreitenden Technik, die von riesigen Konzernen angefeuert unser (Zusammen-)Leben verändert.
Dass dabei gerade diese toxische Männlichkeit, von der so viel gesprochen wird, das Mittel zur Lösung ist? Kein Zufall.
Meint er das so?
Je näher wir an den Charakteren sind, je mehr wir uns mit ihnen oder ihren Beweggründen identifizieren, desto eher sind wir geneigt, ihre Gewalt auch als solche zu lesen: als symbolische.
Klar, das sind alles nur Tendenzen. Denn nicht jede*r kann die dargestellte Gewalt gut ab, aus den verschiedensten Gründen. Für Viele ist keine Form der Gewalt nachvollziehbar.
Ich habe oft ab- und nie wieder eingeschaltet, bei Game of Thrones zum Beispiel.
Die Lesarten von repräsentierter Gewalt sind vielfältig. Was die einen als Kapitalismuskritik verstehen, ist für die anderen einfach ein heftiger Typ, der zeigt, dass er das Zeug zum ‘richtigen’ Mann hat.
Am Ende lassen sie sich nur schwerlich trennen: Die Gesellschaftskritik der Serien von der Gesellschaft, die Gewaltdarstellungen verherrlicht.
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