Dieser Text erreicht dich aus dem Inneren einer Hütte mitten in einem verschneiten Wald. Während draußen die Schneeflocken toben, knistert hier drinnen das Kaminfeuer und eine Katze lümmelt auf dem roten Sessel neben mir.
— Zumindest bin ich dort gedanklich, denn falls jemand mich fragt, wo ich die letzten Wochen war, müsste ich sagen: tief, tief im ASMR-Universum auf Youtube.
Google beschreibt ASMR so:
Dieses "Kopfkribbeln", wie manche es nennen, wird durch angenehme Bilder und sanfte Klänge wie Flüstern, Akzente und Knistern hervorgerufen.
Ich saß in weihnachtlichen Cafés, in Nachtzügen, in herbstlichen Küchen, in Bibliotheken, in Wohnzimmern. In diesen Szenerien schneit, regnet oder stürmt es immer, während drinnen die Wärme lockt, Lampen, Kerzen oder eben Kaminfeuer. Die meisten dieser Orte haben gut ausgepolsterte Sitz- oder Liegegelegenheiten und nur ein Bruchteil verfügt über technische Geräte.
Ich weiß zumindest, dass ich nicht alleine bin mit dieser, etwa im Herbst entfachten, Leidenschaft: Millionen Menschen folgen den Accounts. Sie kommentieren, dass sie damit besser einschlafen können, ihre Angststörungen gemildert sind — oder beschweren sich, dass die Kerze zu nah am Bett steht.
„Mache ich einen inneren Rückzug?“, fragte ich kürzlich eine Freundin, die Pädagogin ist und von der ich mir eine professionelle Einschätzung meines – wie ich vermutete – Verdrängungsprozesses erhoffte.
Es gibt diese Szene im zweiten Herr-der-Ringe-Film (JA, ich habe die Reihe noch mal geschaut neben etlich vielen Weihnachtsfilmen), wenn der König auf dem Schlachtfeld erkennt, dass seine Armee keine Chance gegen die Unzahl an Angreifern hat. Er schreit: „Rückzuuuug!“ und weist damit alle an, in das Innere der Burg zurückzukehren.
Immer schon habe ich mich gefragt, was er damit eigentlich meint. Wohin zurückziehen? Natürlich werden die Angreifer nicht vor dem Inneren der Burg Halt machen und umdrehen. Was bringt der Rückzug?
Meine zynische Vermutung lautet, dass es zumindest schöner ist, die letzten Momente im Leben am Kaminfeuer mit den Liebsten zu verbringen als auf einem Kriegsfeld — sterben wird man ja so oder so.
„Ist doch okay, ich verbringe dafür manchmal ganze Abende mit alten Playstation-Spielen, dich ich früher immer gezockt hab!“, antwortete die Freundin schulterzuckend.
Sie hatte natürlich Recht. Alle haben ihre Strategien zum Entspannen. Ich beruhige mich mit dem -problematischen- Gedanken, dass ja Lohnarbeit, Haushalt und Nachrichtenlesen auch noch funktioniert; ich einen Adventskalender gebastelt, Freund*innen zum Rahmen-Essen, Konzert oder Dating-App-Bewerten treffe und mehrmals die Woche schwitzend in schlecht beleuchteten Hallen auf der Stelle jogge. Kurz: Alle Erwartungen an ein basic girl wie mich bleiben erfüllt.
Wenn ich also das schlechte Gewissen über meinen digital animierten Rückzug weglasse, dann könnte ich sogar zu der Einschätzung kommen, dass ich gerade wegen ihm aktuell eine ziemlich gute Zeit habe. Ich könnte sogar behaupten, dass es kein Zufall ist, dass ich genau in dieser Zeit mit dem Schreiben eines Romans begonnen habe. Ungeplant formten Worte und Sätze sich in meinem Kopf, bekamen Szenen und Figuren eine Gestalt. So viel habe ich seit über zehn Jahren nicht mehr geschrieben.
Es kann sein, dass es nach diesem Text nicht weitergeht, dass es bei einer Datei auf meinem Computer bleibt, wie schon so oft.
Aber dann habe ich zumindest eine Sache anders gemacht; ich habe anderen davon laut erzählt. Ich schreibe gerade einen Roman.
Und das ist der Punkt, der eine Grund, warum ich mich nicht in ASMR-Videos verliere: Dort sind keine Menschen, mit denen ich diese verzauberten Winter-Momente teilen kann.
Das Jahr geht zu Ende. Es gibt viel zu tun, viel zu lernen, viel Wut zu spüren, Fassungslosigkeit auch. Es gibt viele Texte zu lesen, Filme zu schauen, Meinungen zu hören.
Diese Worte sind vielleicht kitschig wie die Einrichtung der ASMR-Videos: Mach diesen Winter, was dir Kraft gibt, um danach wieder rauszugehen und zu kämpfen. Oder wie Katherine May sagen würde:
Winter is a time of withdrawing from the world, maximising scant resources, carrying out acts of brutal efficiency and vanishing from sight; but that’s where the transformation occurs.
PS: Eine Person, die meinen Newsletter abonniert hat, spendierte mir vor ein paar Monaten einen Kaffee. Ich habe ihn mir gekauft und war wahnsinnig glücklich. Danke dafür <3
PPS: Für Fortgeschrittene: Es gibt auch Gilmore Girls ASMR und Skyrim ASMR.
Danke fürs Lesen! ✨ Ich bin Vivi, ich schreibe über alles, was glänzt.
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Gilmore Girls ASMR 😍
Du schreibst einen Roman wie gut!!💪🏻💪🏻💪🏻