„Ich hab’ noch so wenig gelebt!“
Ich sitze im Auto meiner Mutter und bemühe mich nicht mal, die Mischung aus Rotz und Tränen aus meinem Gesicht wegzuwischen.
Es ist eine dramatische Szene, die nicht so recht in mein Leben zu passen scheint, eher in eine Folge von Grey’s Anatomy, das ich zu der Zeit oft schaue. Meine Mutter sitzt mir zwar mitfühlend aber doch deutlich gefasster gegenüber.
Wir befinden uns auf dem Parkplatz irgendeines Vertretungsarztes, der mir gerade unmissverständlich mitgeteilt hat, dass dieser Knubbel in meiner Brust keine harmlose Zyste ist und ich jetzt nicht sofort eine Biopsie machen muss; aber ich auch bitte nicht sechs Monate warten soll.
Ich bin 20 Jahre alt und es ist Weihnachtszeit. Die Tage zwischen den Jahren verbringe ich, als seien es meine letzten.
Ich heule stundenlang im Bett. Ich habe ernste Gespräche mit Verwandten und schwebe gedankenverloren durch den Karstadt, um das warme Licht der Weihnachtsdeko einzusaugen. Die Welt wird auch ohne mich weitergehen, denke ich mit der Zufriedenheit einer Person, die sich mit dem nahenden Tod schon halb angefreundet hat. There will always be Karstadt.
Wenige Tage später dann die deutlich beruhigenderen Worte meiner eigentlichen Gynäkologin und einige Wochen später dann die Biopsie. Die Ärztin im Krankenhaus verabschiedet mich mit den Worten:
„Ich glaube nicht, dass wir uns wiedersehen.“ Sie wird Recht behalten.
Ich verstehe, wenn dieser Einstieg in den Text auf dich lächerlich oder trivial wirkt, weil du selbst wirklich krank bist oder einen Menschen kennst, bei dem die Diagnose anders war als: völlig harmlos.
Ich denke oft darüber nach, wann meine Zwanziger überhaupt angefangen haben, seit ein Dozent an der Uni fachsimpelte, wann wohl die 1960er begannen. Bis dahin war ich so naiv zu glauben, dass es wohl am 1. Januar 1960 losgegangen sein muss. Zu kurz gedacht — natürlich, wie mir dann erklärt wurde. Denn wenn mensch die 60er nicht als Zeitfenster, sondern als kulturelles Ereignis fasst, lässt sich überlegen, was eigentlich bezeichnend war; für dieses Jahrzehnt des Umbruchs, der Gegenkultur, der Dekolonialisierung, der technischen Errungenschaften.
Ich weiß, dass meine Teeniezeit auf einem Friedhof endete.
Und ich glaube, dass meine Zwanziger im Auto vor einer Arztpraxis in Duisburg begannen. Mit Todesangst, über die ich heute schmunzeln will, um mich sofort abzugrenzen: Ich weiß, wie drüber ich war.
Doch es war auch der Einstieg in ein neues Jahrzehnt. Denn die Worte, die ich geäußert hatte, als erste Reaktion auf eine potentielle aber doch sehr hypothetische Krankheit, hallten noch monatelang in meinem Kopf nach: Ich hab’ noch so wenig gelebt.
Heute lachen Freund*innen über meinen FOMO, der nur davon im Zaun gehalten wird, dass ich auch Drinnie bin. Hinter dem FOMO steckt das Gefühl, etwas verpassen zu können, ein Gefühl, das mich meine ganzen Zwanziger nicht verlassen hat. Die Vorstellung, dass es das gewesen sein könnte, trieb mich um.
Jetzt ist zehn Jahre später, jetzt ist Sommer. Während ich das schreibe, sind die Einladungen raus, die Nachbarin vorgewarnt. Ich werde 30.
Ich verliere mich in der Essensplanung. Durchforste zwischendurch ein paar Bilder, denke über Geburtstags-Episoden in Serien nach, in denen immer alle irgendwas lernen.
30 werden ist leicht, wenn ich mir überlege, noch nicht zu wissen, wann die Zwanziger enden werden — oder vielleicht schon geendet haben. Vielleicht waren sie vor ein paar Jahren schon vorbei, in dem Moment, als sie die Großveranstaltungen absagten und alle nach Hause schickten. Und ich dort bereitwillig blieb; bereit die letzten Jahre meiner Zwanziger auf der Couch zu verbringen und alle Vorstellungen von einem Leben mit Ende 20 in Köln loszulassen.
Dies ist eine Geschichte und sie beginnt da, wo ich sie beginnen lasse. Die größte Zuversicht für mein Leben kommt von der Gewissheit, den ersten Satz ändern zu können, jederzeit.
Danke fürs Lesen! Statt Kuchen 🍰: Wenn der Text dir gefallen hat, freue ich mich riesig, wenn du ihn mit Menschen teilst.