Ich weiß nicht, wie es euch geht, aber Fakt ist, der Frühling ist definitiv da; und ich bin maximal überstimuliert. Von den neuen Möglichkeiten, die eine Stunde mehr Helligkeit bringt, von der Wärme einerseits und Nässe andererseits, durch die meine Kleidungsauswahl konsequent falsch ist. Von den vielen Veranstaltungen, die warten, den Artikeln, die gelesen und geschrieben werden wollen. Und natürlich dem unbestimmten Gefühl, mensch sollte jetzt mal langsam die Krümel aus den Küchenschubladen entfernen.
Keine Jahreszeit bringt so viele Erwartungen mit sich wie der Frühling. Alle wissen, dass Herbst und Winter die self-care-Monate sind, die möchten, dass wir uns in dicke Decken hüllen, Taylor Swift hören und in uns kehren, um mal aufzutanken und herauszufinden, was uns wirklich wichtig ist. Klar, der Frühling, will auch, dass wir in uns kehren – aber um mal so richtig doll aufzuräumen, Scheuermilch und Chlor inklusive (in – uns – kehren).
Der Frühjahrsputz hat eine lange Tradition. Der Wortursprung von „Februar“ kommt aus dem Lateinischen und bedeutet „reinigen“ (februare). Und in der jüdischen und christlichen Tradition gibt es den Brauch, vor dem Pessachfest bzw. Ostern die Wohnung für die Feierlichkeiten zu reinigen. Natürlich hat unsere kapitalistische Gesellschaft diesen Gedanken munter aufgegriffen und für andere Dinge fruchtbar gemacht. Denn der Frühling ist ja quasi der pre-Sommer: In dem wir am besten unseren Urlaub buchen, Bademode kaufen, den passenden Körper dazu erarbeiten und unser Mindset auf die beste Zeit des Jahres einstellen.
Und in einer Zeit, in der wir ständig von Psychohygiene sprechen, ist Putzen natürlich niemals einfach nur Putzen: „[E]s ist nicht nur der Gedanke an ein ordentliches Zuhause, der uns antreiben sollte, sondern auch die positiven Auswirkungen auf die mentale Gesundheit“, schreibt die Brigitte und gibt Tipps, um den Frühjahrsputz maximal erfolgreich für den Geist zu machen.
„Putzen hilft den Menschen, den Alltag besser zu bewältigen und einem Gefühl von Ohnmacht und Überforderung entgegenzutreten“, erklärt auch der Psychologe Jens Lönneker.
Klingt alles nicht neu? Nicht besonders frühlingshaft?
Das ist, weil wir längst in einer Frühjahrsputz-Gesellschaft leben. Aufräumen, aussortieren, reinigen, Platz für Neues schaffen. Ob Marie Kondo uns nun animiert, Kleidungsstücke zu umarmen, wir Wünsche für das neue Jahr in den Rauhnächten verbrennen, Freundschaften beenden, die nicht guttun, Detox-Tee trinken, oder unnötige Geldschlucker identifizieren, um locker flockig durch die Inflation zu kommen. Das ganze Jahr über sind wir gefragt, möglichst effizient, aufgeräumt, zielgerichtet zu sein, in allen Bereichen von Arbeit, Datenablage bis Abendgestaltung, Osterfest und Resteverwertung.
Die Wahrheit ist doch: Wenn du dieses Jahr keinen innerlichen und äußerlichen Frühjahrsputz macht, könnte es sein, dass dein Jahr trotzdem genau so verläufst. Weil du eh immer dran bist.
Der Soziologe Philipp Sarasin sagt, dass „Hygiene“ das „Wunderwort der Moderne“ im 19. Jahrhundert war. Hygiene avancierte zur gesellschaftlichen Bemühung, sich selbst und das eigene Leben so zu formen, dass ein gesundes und langes Dasein möglich ist. Das war natürlich einerseits praktisch, weil die Menschen so länger arbeitsfähig wurden. Und andererseits hatten nicht alle den gleichen Zugriff auf diese Techniken zur Körperertüchtigung, Psychohygiene und Reinlichkeit. Daher war „Hygiene“ prima geeignet für die oberen Klassen, um sich von den Arbeiter*innen abzugrenzen und allen anderen, die sie als nicht-reinlich fantasierten (people of color zum Beispiel).
Hygiene ist identitätsstiftend; sie hält symbolische Grenzen aufrecht. Wenn ich die Wäscheberge vom Boden entferne, sieht es wieder mehr nach Schlafzimmer aus. Wenn ich mich auf drei Ziele für den Sommer fokussiere, kontrolliere ich wieder den Verlauf des Jahres (vermeintlich).
Das ist jetzt kein Aufruf, alles liegen zu lassen (aber auch kein Abraten davon). Ich bin ja selbst beständig dabei, Listen anzufertigen. Von Büchern, Filmen, Zeitschriften, Serien, die konsumiert werden sollen. Von Themen, mit denen ich mich beschäftigen will: Algorithmen, Rechtsruck in Finnland, den Ochsenknechts. Oder von übergeordneten Projekten; Steuererklärung, Autofahren, die Nachbarskatze von unten in die dritte Etage locken.
Das Problem ist, dass ich diese Listen oft wieder liegen lasse, so wie die Regenjacke, die ich in den letzten Tagen eigentlich wirklich oft gebraucht hätte. Irgendwo droht – das ganze Jahr über – immer ein neuer Sommer, ein high life, das uns sowohl unter Druck setzt jetzt sofort zu handeln bevor es zu spät ist – oder damit droht, gar nicht einzutreten, wenn wir nicht vorbereitet sind.
Deswegen ist heute mein einziger Tipp zum Frühjahrputz: die Not-To-Do-Liste.
Ich habe sie als Tool kennengelernt, um im Arbeitskontext eigene Prioritäten zu klären. Sie lässt sich aber beliebig auf alle Bereiche des Lebens ausweiten:
Filme und Serien, die wie niemals gucken werden, egal wie viele Leute sie empfehlen;
Themen, über die wir mit der Familie nicht mehr streiten werden;
Hashtags, die jetzt laut sind in zehn Jahren aber vergessen sein werden: #thatgirl #vanillagirl.
Der Frühling wird vergehen, Krümel in der Couchritze oder nicht. Und dann wartet ein Sommer der uns nimmt, wie wir sind: mit Flausen im Kopf, unreiner Haut und schlechtem Mindset.