[Content Note: Dieser Beitrag thematisiert essgestörtes Verhalten und Essstörungen. Pass auf Dich auf.]
1. In meiner Schulzeit in den 2000ern, war es normal, dass einige Mädchen einfach sehr viele Äpfel aßen.
Wenn eine sagte, „Ich esse keine Kartoffeln“ (und keine Nudeln, und keine Burger), dann wurde das nicht kommentiert und ein Salat gemacht, mit genau so wenig Öl, wie es für alle in Ordnung war.
Plötzlicher Gewichtsverlust und schlechte Haut waren Phänomene, die wir nur hinter dem schmalerwerdenden Rücken einer Person kommentierten. Fast liebevoll muten da Geschichten über Freund*innen an, die einem Mädchen heimlich Zucker in den Cocktail krümelten, während sie auf Toilette war.
Wir alle wussten, was Essstörungen waren, aber keine*r hatte eine.
Wir lachten über die GNTM-Mädels, wir lachten über Heidi Klum, die sich in jeder Staffel prätentiös einen Döner oder Hamburger reindrückte.
Wir waren Heidis Töchter, weil wir die blonde Frau im Fernseher peinlich fanden und trotzdem abends brav nur Eiweiß aßen. Mama taught us well.
Die echte Tochter von Heidi, Leni, darf 17 Jahre später mit Mama für eine Unterwäsche-Kampagne posieren. Leni lacht nicht.
Essstörungen waren Klischees so wie Boybands. Essstörungen waren ernste Dokus im Öffentlich-Rechtlichen, die Mädchen in Kliniken begleiteten.
„Wie konnte es nur so weit kommen?“
Die Kamera richtet sich fragend auf die Eltern, die Eltern schauen fragend zurück. Die Antwort der Doku kommt von einer Montage-Sequenz: ein Zusammenschnitt aus Coverbildern und dünnen Popsternchen, wie Keira Knightley bei der Premiere von Fluch der Karibik.
2. Hunger ist Leitmotiv unserer Familiengeschichte.
Und er ist nicht zu übersehen; er manifestiert sich in Bluttests, in Diagnosen sogenannter „Volkskrankheiten“, in den Bäuchen der Männer, Weight-Watchers-Mitgliedschaften der Frauen.
Er ist der Grund, warum wir Kinder früh begannen, lieber potentiell problematische Süßungsmittel zu konsumieren als das, was den gleichen Namen trägt wie die liebevolle Umschreibung der Todesursache unserer Oma: ZUCKER.
Hunger ist untrennbar mit großen Ereignissen verwoben:
1. Weltkrieg, 2. Weltkrieg, Kinderlandverschickung, Kriegsgefangenschaft, 12-Stunden-Schichten unter Tage, Aushöhlung des Sozialstaats.
Aber auch: Studium, Hochzeit, Scheidungen, ausbeuterische Arbeitsverhältnisse.
Wenn ich an Hunger denke, sehe ich meinen Opa, der als Kind nach dem Krieg tagelang mit der ganzen Familie im Bett lag, zu geschwächt, um aufzustehen.
Oder ich sehe meine Mutter, die als Studentin Kartoffeln vom Feld mitgehen lässt. Schnell weiterläuft, ohne sich umzusehen.
Hunger gab es immer, so wie Verwandte, die zu viel trinken, oder mal mehr oder weniger insgeheim Nazis waren.
3. Dinge, die ich über Hunger gelernt habe.
Iss den Teller leer und Nimm dir nur so viel, wie du wirklich isst.
Iss nur bis du satt bist aber Warte eine halbe Stunde nach dem Essen, denn so lange dauert es, bis das Sättigungsgefühl einsetzt.
Der Körper sagt dir schon, wann er hungrig ist aber Wenn du denkst, hungrig zu sein, bist du vielleicht nur durstig.
Britney Spears machte 500 bis 1000 Situps am Tag und Man fängt erst nach 30 Minuten Sport an, Fett zu verbrennen.
Du bist was du isst und Nothing tastes as good as skinny feels.
4. Hunger ist auch akademisiert: kompliziert.
Meine Master-Arbeit verfasste ich über Body Positivity Ratgeber. Auf der vorletzten Seite schrieb ich ich in einer Fußnote:
Als weiße, weiblich sozialisierte Person – der bevorzugten Zielgruppe der Ratgeber – sah ich mich im Zuge der intensiven Beschäftigung mit Argumenten und self-care-Techniken der Body Positivity mit einer zunehmend veränderten Körperwahrnehmung und einer gesteigerten Reflexion des eigenen Ess- und Sportverhaltens konfrontiert. Trotz eines theoretisch-wissenschaftlichen Zugangs, manifestierten sich weniger Emotionen einer befreienden Körper- und Selbstermächtigung, sondern insbesondere eine beständige Sorge über Gewichtsschwankungen in jedwede Richtungen, sowie eine selbstkritische Beobachtung assoziierter Gedanken und Gefühle.
Was ich da so akademisch sezierte war die simple Tatsache, dass ich keinen Muffin mehr anschauen konnte, ohne mich zu fragen: Will ich ihn? Will mein Körper ihn? Verbiete ich mir hier etwas oder würde ich ihn – Gott bewahre – emotional essen?
5. Heute rätseln sie über das sogenannte Übergewicht sozialer Milieus.
Zu dem auch meine Familie mal gehörte.
Die haben nie gelernt, wie sie sich ernähren sollten.
Die lassen sich gehen.
Das fängt schon bei den Kindern an.
Es ist eben günstiger, sich ungesund zu ernähren.
Aber Gemüse ist gar nicht teuer.
Ich höre Grummeln, das von meiner Körpermitte kommt.
Erzählt mir nicht, meine Oma hätte weniger essen können, erzählt mir nicht, die Spannung im Bauch ihrer Enkelin sei nicht echt.
Danke fürs Lesen! ✨ Ich bin Vivi, ich schreibe über alles, was glänzt.
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Und: Ich freu mich natürlich besonders über jeden Kommentar :)
Dieser Text entstand im Reahmen des einwortKollektivs. Wir sind sechs Autor*innen, die sich alle zwei Monate von einem gemeinschaftlich bestimmten Wort inspirieren lassen. In den nächsten Wochen könnt ihr euch auf Texte über HUNGER freuen:
Franziska König wird uns eine literarische und poetische Beschreibung des Gefühls “Lebenshunger” schenken.
In olivia’s notatka wird es um ein Interview gehen, welches Oliwia seit der Pubertät begleitet und um ihre polnische Zunge, die bestimmtes Essen in Emotionen und Identitäten verwandelt.
Antoni Dylan wird sich auf Pöbeln und Popkultur mit Hunger auseinandersetzen.
In ihren Hinterhofgedanken wird Kea von Garnier uns in hungrige Welten mitnehmen.
Sofia B. schreibt über den Hunger nach mehr und da Leben im Prä-Burnout. Ihr habe ich das wertschätzende Lektorat zu diesem sehr persönlichen Text zu verdanken.
oh wow. ich finds heftig, wie sehr ich mich in dem text wiedererkenne. vor allem die erfahrungen in der schule sind 1:1 dieselben und ich finds heute nach wie vor erschreckend, wie "normal" das war.
und ich finde deinen text stilistisch einfach unheimlich gelungen - ich fand ihn sehr berührend.