Moby Dick, Titanic, Schiffbruch mit Tiger. Narrative über Schiffsunglücke sind beliebt.
Bereits seit dem 17. Jahrhundert gibt es so viele Erzählungen über kenternde, von Walen angegriffene, in Stürme geratene oder verfluchte Schiffe, dass sich von einem eigenen Genre sprechen lässt.
Auch wenn wohl die wenigsten Menschen selbst in Schiffbrüche involviert waren und sein werden. Von journalistisch, bis fiktional und künstlerisch, besonders in den USA liebten die Menschen Geschichten, die besonders detailreich und dramatisch anmuten.
Und es waren oft: Überlebens- und damit Helden(!)geschichten – denn wer sonst sollte von dem (Un-)Glück erzählen? Es ist ja nicht so, als wäre Ahab, der Kapitän aus dem Roman Moby Dick von einer Drohne begleitet worden.
Es ist ein leichtes, sich mit den Erlebenden eines Schiffbruchs zu identifizieren. Wir lauschen gerne ihren subjektiven Geschichten, ihrem Überlebenskampf gegen die allmächtig wirkende Gewalt der See. Und es ist noch schöner, sich dabei selbst im Trockenen zu wähnen, wohlmöglich auf einer wohlig warmen Couch oder was auch immer im 18. Jahrhundert das Äquivalent dazu war.
Doch Schiffbrucherzählungen sind nie nur abgfahrene Stories, Einzelschicksale, ein Spektakel für die (überlebenden) Massen.
Die US-amerikanischen Geschichten im 18. und 19. Jahrhundert mehrten sich zu einer Zeit, als sich die Nationalidentität bildete. Mutige Seemänner und ihre Retter, die quasi außerhalb der Gesellschaft (auf See), um das Leben kämpfen (oft auch das von weißen Kindern und Frauen) standen im Zentrum der Erzählungen.
Während der aufkommende Kapitalismus an Vorstellungen von Männlichkeit rüttelte und der individualistische Self-Made-Man als Ideal in den Vordergrund rückte, waren die Helden der Seeabenteuer Männer, die die Natur bezwingen, für die Gemeinschaft, für die Nation. Oder die durch Gottes Gnade auserwählt waren – so wie die USA es ja zuweil auch von der Nations selbst behaupteten und behaupten.
Und Schiffbrüche und Rettungsaktionen waren auch Aushandlungen von neuen Technologien: War es nicht die niedagewesene Größe der Titanic, die ihren Untergang noch dramatischer machte? Hätten wir es nicht vorhersehen müssen?
Auch heute, in Zeiten, in denen wir live verfolgen können, wie sowohl Hunderte Flüchtlinge sich auf den Weg nach Europa machen als auch fünf Menschen, die die Titanic finden wollen – ironischerweise das wohl bekannteste Wrack der Welt – geht es nicht um Einzelschicksale.
Die Gesellschaft fiebert mit den Personen im U-Boot mit, die Technik wird hinterfragt, die Daten kursieren: wie viel Sauerstoff noch, wie groß der Suchradius. Ich kenne keinen dieser fünf Menschen, aber auch jetzt hoffe ich, dass sie gefunden werden, unweigerlich, stelle mir den Horror vor. Eilmeldungen, Live-Ticker. Hoffnung auf ein Happy End.
Doch die Aufmerksamkeit ist ungerecht verteilt. Und sie ist politisch gewollt.
Denn auch das zum Alltag gewordene Sterben von Menschen im Mittelmeer ist Teil einer größeren Erzählung. Eine Frage von Staatsbürgerschaft, Geld und Rassismus.
Nur ist es hier: Keine Naturkatastrophe, kein Wal oder technischer Defekt.
Das Seemonster heißt Europa.
Und es verdient unsere Aufmerksamkeit. Auch ohne Happy End.
*Inhalte dieses Text sind inspiriert von einem Amerikanistik-Seminar an der Ruhr-Universität Bochum “Narratives of Survival”.
Weiterführende Literatur
Mitchell-Cook, Amy. 2013. A Sea of Misadventures: Shipwreck and Survival in Early America. University of South Carolina Press.
Lane, Daniel W. 2002. Nineteenth-century American shipwreck narratives and national identity.