Ist unpassend und altmodisch, 2023 einen Text über Die Sims zu schreiben?
Während wir anderorts diskutieren, ob es okay ist, mit verstorbenen Verwandten in Form von KI zu kommunizieren und mutmaßen, wen ChatGPT nicht bald ersetzen wird.
Doch kürzlich erzählte mir eine Freundin, ein Therapeut habe ihr geraten, Die Sims zu spielen: um Freizeitaktivitäten wiederzuentdecken, welche die Depression ihr aus dem Kopf geschmissen hatte wie Vokabeln des 7. Klasse-Französischunterrichts.
Was können wir auch 2023 noch von den Sims lernen – 20 Jahre nach Erscheinungsdatum?
Die Sims als Kulturgut
Der Ratschlag des Therapeuten war natürlich nicht zufällig, denn Die Sims hat unsere Kulturtechniken in seinen Funktionen verankert. Die Sims schauen fern und machen ein Nickerchen auf der Couch. Sie können einen Blog starten, angeln, Sex haben, Shisha rauchen, Gitarre spielen. Und ihre Nachbar*innen mit dem Teleskop beobachten.
Die Sims ist ein Archiv. Wenn ich Aliens unsere Gesellschaft erklären müsste, würde ich ihnen als erstes dieses Spiel zeigen. So kleiden sich Menschen für eine Hochzeit, so erziehen sie ihre Kinder, so sieht ein Studierendenwohnheim aus. Alles da.
Und auch gesellschaftliche Debatten und Entwicklungen werden in den verschiedenen Versionen des Spiels abgebildet:
Bei Die Sims 4 können nicht nur alle Geschlechter heiraten und sich lieben. Alle können theoretisch ein Kind gebären (sich mit schmerzerfülltem Gesicht so lange den Bauch zu halten – im Stehen! - bis plötzlich ein Babybett erscheint). Und zwar nicht nur mit romantischen Partner*innen: Per Telefon lässt sich auch ganz einfach – mit ausreichend Geld – ein Baby mit einer Freundin zusammen machen.
Die Sims lassen sich höchst kleinteilig gestalten: Eine große Auswahl an Hauttönen, Haarfarben und -strukturen, Gangarten, Stimmhöhen, Charaktereigenschaften und Körperformen lässt die Welt der Sims vielfältiger erscheinen, als weiße Menschen es von ihren Freund*innenkreisen oft behaupten können.
Die Sims-Macher*innen haben offenbar wie viele Unternehmen gerade eine neue Zielgruppe für sich entdeckt hat. So bleibt das Spiel für alle attraktiv:
Menschen, die Mutter-Vater-Kind spielen möchten – und jene, deren Sims in polyverflechteten Beziehungsmodellen stecken und ihr von Schaben heimgesuchtes Großstadtapartment mit selbstgemalten surrealistischen Bildern finanzieren.
Die Sims als Kindheitserinnerung
Das Spiel erschien in seiner ersten Fassung, als ich sieben Jahre alt war. Man könnte sagen, es ist mit mir gewachsen.
Von eingeschränkten Handlungsspielräumen und stereotypen Geschlechterbildern zu Freiheit, Komplexität und der Option, Essensreste im Kühlschrank zu verstauen.
Wenn ich mit Gleichaltrigen über Die Sims spreche, gibt es immer einen Anknüpfungspunkt. Ähnlich wie wir momentan zum neuen Barbie-Film relaten oder die Siedler-von-Catan-Community kürzlich ihren Macher betrauerte.
Manchmal entstehen beim Reden über Die Sims ziemlich bizarre Unterhaltungen über Tötungsmethoden für die Charaktere: Ist es besser sie in den Pool zu schicken und die Leiter zu entfernen? Sie mit Feuer spielen zu lassen, bis sie selber brennen? Oder doch einfach einmauern?
Auch die 2000er-Nostalgie auf Social Media hat Die Sims längst wiederentdeckt. Auf TikTok sind Rezepte aus dem Spiel im Trend und einige Memes katapultieren uns alle wieder in unsere Kinder- und Jugendzimmer zurück.
Oder bin ich mit dem Spiel gewachsen?
Die Sims ist kultureller Kanon, so wie Pippi Langstrumpf, Harry Potter oder Iphigenie auf Tauris. Bei den Büchern haben ganze Generationen alle die gleichen Wörter gelesen (oder kollektiv das Lesen verweigert) und über Sinn und Unsinn der Geschichten diskutiert.
Bei Die Sims aber, haben wir alle in der gleichen Welt und vorgefertigten Häusern gelebt, sind Beziehungen mit den gleichen komischen Stadtcharakteren eingegangen (looking at you Bella Grusel), haben die gleichen Karrieren verfolgt.
Die Sims, das sind wir
Wenn die Sims nach uns Menschen modelliert wurden, dann sind wir im Umkehrschluss auch zu den Sims herangewachsen. Simifikation.
Der Forscher R.W. Belk1 sagt, dass unser digitales Selbst eine Erweiterung unseres Selbst ist. Wir erweitern unser Selbst ständig, wenn wir physische Objekte um uns sammeln und kuratieren – Fotos, Möbel, Kleidung –, um Eigenschaften zu kommunizieren: Geschmäcker, Erinnerungen, Klassenstand. Auch dort, wo wir digital in Erscheinung treten, wie etwa auf Instagram, kreieren wir uns. Soweit, so offensichtlich.
Man könnte meinen, dass ist bei Die Sims anders, wo ich zum Beispiel bevorzugt schulschwänzende Teenager spiele. Oder Frauen mit frechem Haarschnitt, die mit organisiertem Verbrechen ihr Geld verdienen.
Doch es heißt: Wenn wir einen Avatar erschaffen, der oder die das gleiche Geschlecht, Alter und ‚race‘ wie wir hat, erscheint er*sie uns wie ein Teil unseres Selbst, mit dem wir uns durch das Spiel bewegen.2
Und auch wenn ein Avatar, ein digitales Wesen, uns nicht komplett ähnelt, kann es zu einem sogenannten Proteus-Effekt kommen: Zahlreiche psychologische Experimente zeigten, dass das Selbstbewusstsein einer Person steigt, wenn sie z.B. einen großen, starken Avatar durch digitale Welten steuert.
„[S]pielerische Experimente mit personalen Identitäten“ würde der Soziologe Andreas Reckwitz das nennen.3 Warum also nicht demnächst bei Lampenfieber einfach mal ein bisschen als Lara Croft durch die Gegend laufen?
Die Sims als Training
Die Sims zu spielen macht also etwas mit uns. Doch etwas anderes als das Lesen von Büchern oder das Filmeschauen es vermögen.
Und egal, ob es ein „Nachhaltig leben“-Erweiterungspack gibt oder die Charaktereigenschaft „vegetarisch“; die Botschaften des Spiels haben sich seit der ersten Version nicht verändert:
Du kannst alles erreichen, wenn du dir die passenden Fähigkeiten aneignest
Egal, mit welchen Startbedingungen (Geld, aber auch Hautfarbe oder Geschlecht) und auch ohne Rosebud-Cheat: Ich habe es bisher immer innerhalb einer Generation geschafft, mir das dekadenteste Haus zu kaufen. Dein Ziel ist ein durchtrainierter Sim-Körper? Gar kein Problem: Laufband, Trainingsgeräte und Salat anstatt Goopy Carbonara. Die Sims würden FDP wählen, so viel ist sicher.Beziehungen müssen nützlich sein
Als Politikerin kann man sich bei Die Sims Wahlstimmen sichern, indem man gute Beziehungen pflegt. Hat es nicht sofort gefunkt mit einem anderen Sim? Einfach noch ein bisschen die Option „Kennenlernen“ auswählen, bis irgendwann auch „Flirten“ mit Punkten belohnt wird. Und wer erinnert sich nicht an die Möglichkeit bei Die Sims 2 mit dem Schulleiter zu schlafen, damit das eigene Kind in der Privatschule aufgenommen wird?Konsum als Traumerfüllung
In der Logik des Spiels zielt alles darauf ab, dass wir uns teurere, schönere Häuser leisten können, die wir mit Konsumgütern füllen. Und wenn es keine Gegenstände sind, dann kann man mit dem Geld eben auch Erlebnisse kaufen: Urlaub, Konzerte oder Theaterstücke.
“The Sims is designed in a way that makes it hard to have fun unless you buy a lot of stuff.”4
Wie im echten Leben also. Nur dass Die Sims ein Transportmittel sind, mit denen diese Ideen unweigerlich einen Weg in unser Gehirn finden. Denn ob bei der Erstellung des Sims selbst, der Einrichtung des Hauses oder der Jobsuche: Es geht immer um Auswahl, Modifizierung, Entscheidung:
„Die digitale Welt trainiert das Subjekt somit in einer verallgemeinerten Haltung des Konsums.“5
Und: Wir lernen, unsere eigene Geschichte, Hobbies, Fähigkeiten und Beziehungen als Mittel zum Aufstieg auf dem Arbeits- und Beziehungsmarkt zu betrachten.
Wie sollen wir den Therapeut meiner Freundin also einschätzen, wenn er ihr zum Spielen rät, um Freizeitaktivitäten zu entdecken?
Nun ja. Die Sims selbst, sei angemerkt, können auch Die Sims spielen, um Spaß zu haben. Die Ironie ist natürlich, dass wohl nichts disorientierter und unproduktier macht, als stundenlang dieses Spiel zu zocken.
Liebe Subscriber! Viele von euch sind neu hier: Schön, dass ihr da seid und danke fürs Lesen!
Ich freu mich über eure Nachrichten und Kommentare: Gibt es noch Die Sims-Spieler*innen unter euch da draußen? Welche Charaktere erstellt ihr am liebsten?
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Belk, R. W. (2013). Extended Self in a Digital World: Table 1. Journal of Consumer Research, 40(3), 477–500. doi:10.1086/671052.
ebd., 481.
Reckwitz, Andreas (2021). Subjekt. transcript. S. 173.
Frasca 2001, in: Belk, 480.
Reckwitz, 173.