Für einen Schreibworkshop, den ich mit einer Freundin zum Thema „Autobiographisches Schreiben“ vorbereitet habe, kramte ich kürzlich alte Erinnerungsstücke hervor, die als Beispiele für Schreibimpulse dienen sollten.
Neben den Klassikern wie Fotos, alten Visitenkarten und meinem 1. Tagebuch fiel mir auch ein anderer Gegenstand in die Hände: mein Hausaufgabenheft aus der 9. Klasse.
Ich hatte es wie damals bei mir und meinen Freund*innen üblich ‚aufgestyled‘ und mit Bildern von Stars (P!NK, Rupert Grint, Keira Knightley), Serien (Scrubs, Spongebob Schwammkopf) und anderen Dingen beklebt, die mir offensichtlich ebenso wichtig waren: das Symbol der Marke Carharrt und eine Kaugummi-Verpackung, Geschmacksrichtung Strawberry Mint.
Umhüllt hatte ich das ganze mit durchsichtiger Plastikfolie, damit dieses Konstrukt ein Jahr lang hält (vermutlich wird es uns alle überleben).
Aus heutiger Sicht schreit alles daran: CRINGE!! Natürlich musste ich es also zum Schreibworkshop mitnehmen.
„Das hast du aufbewahrt?“, fragte eine Teilnehmende beim Workshop dann, lachend.
Tatsächlich war mir diese simple Frage vorher gar nicht in den Sinn gekommen. Warum hatte ich es aufbewahrt? – beziehungsweise: Warum habe ich seit meiner Jugend alle meine Kalender aufbewahrt?
Oder anders gefragt: Woran hoffte ich mich zu erinnern?
Vergessen Macht Identität
Einen Text über das Vergessen mit einem Erinnerungsstück zu beginnen liegt nahe:
„Erinnern und Vergessen sind zwei Seiten – oder zwei Prozesse – desselben Phänomens: des Gedächtnisses. (Soziales) Vergessen ist Voraussetzung für (kulturelle) Erinnerung.“1
Die Kulturwissenschaftlerin Astrid Errl verknüpft hier das individuelle Erinnern mit der Ebene des gesellschaftlichen Erinnerns und Vergessens, die mit den Begriffen „kollektives Gedächtnis oder „kulturelles Gedächtnis“ gefasst werden.
Nicht nur jede*r Einzelne entscheidet beinahe täglich, ob etwas erinnerungswürdig ist (Handyfotos, Konzerttickets, Kühlschrankmagneten, die Verwandte aus dem Urlaub mitgebracht haben) oder ob wir etwas wegschmeißen, um es hoffentlich für immer zu vergessen (Chatverläufe mit der*dem Ex, die Choreographie, die du in der 4. Klasse mit deiner Freundin zum Song vom Sarah Connors „From Zero to Hero“ erdacht hast).
Auch ganze Gesellschaften und Nationen machen das permanent. Sie entscheiden, welche Geschichte über sie erzählt werden soll und stellen ihre Museen dann mit Vasen, politischen Dokumenten und Fotografien voll: Das sind wir.
Der Soziologe Maurice Halbwachs sagt, Geschichte sei das Gegenteil von Gedächtnis – während das Erstere der neutrale Versuch sei, eine Abfolge von Ereignissen darzustellen, sei das Letztere der Versuch einer Identitätsbildung. Oder um es noch mal pointierter mit Jacques Derrida zu sagen:
„Keine politische Macht ohne die Kontrolle des Archivs, wenn nicht gar des Gedächtnisses.“
Kein Wunder also, dass die politische Dimension des Erinnerns und Vergessens in den letzten Jahrzehnten vor allem von den Menschen und Gruppierungen aufgezeigt wurde, die systematisch „vergessen“ wurden:
Frauen, die ihren Platz in der Geschichtsschreibung vermissten: Etwa ihre Rolle in Medizin, Technik und Literatur.
Trans* Personen, die bewiesen, dass sie schon immer existiert haben und eben kein neumodischer Trend sind.
ehemals kolonialisierte Nationen und Menschen, welche die Erzählung westlicher „Eroberung“ und „Entdeckung“ als gewaltsamen Akt der ökonomischen, kulturellen und sozialen Ausbeutung neu schreiben.
Wie hängt das jetzt noch mal mit meinem Hausaufgabenheft aus der Schulzeit zusammen?
Vergessen ist eben kein passiver Akt ist, sondern ein aktiver wie produktiver: Das Aussortieren von physischem wie ideellem Material schafft Identitäten, schafft neue Fakten, verdrängt, macht mundtot.
Im trivialsten Fall schmeißt wer sein Hausaufgabenheft weg und kann sich später nicht mehr daran erinnern, mal Spongebob Schwammkopf-Fan gewesen zu sein. Im schlimmsten Fall vernichtet der Staat Akten im NSU-Prozess und erleichtert ein Vergessen staatsinterner Rassismen.
Identität Macht Vergessen
Erinnern und Vergessen, Archivieren und Wegschmeißen; sind also folgenreich. Wobei das hier kein Aufruf ist zum persönlichen hoarding ist: Denn alles aufzubewahren, heißt nichts aufzubewahren. Alles zu erinnern ist unmöglich.
Stell dir vor, du könntest jede Erinnerung jedes einzelnen Tages aufrufen (z.B. durch Dumbledores Denkarium oder auch deine Social Media Historie).
Du wüsstest in zehn Jahren nicht, wo du anfängst – welchen Tag herausgreifen, welchen Moment? – weil du keine Prioritäten gesetzt hast und damit keine Bedeutungen geschaffen.
Wovor haben wir Angst, wenn wir befürchten, etwas zu vergessen? Ich glaube, wir haben Angst zu vergessen, wer wir sind.
Ich habe damals meine 14-jährige Identität in Form eines Hausaufgabenheftes gebastelt, in Plastik gehüllt und gehofft, dass sie ein Jahr lang hält.
Und dann habe ich etliche Male, als ich umzog oder die 1. Staffel Marie Kondo geschaut hatte, entschieden: Das behalte ich, daran will ich mich erinnern. Und vielleicht habe ich es auch deswegen behalten: Um zu wissen, wer ich nicht mehr bin.
Für kein Geld der Welt würde ich wieder mit meinem Selbst aus der 9. Klasse tauschen wollen, das hinter dieser Plastikfolie wohnt.
Angst vor dem Vergessen ist also die Angst, nicht mehr zu wissen, wer wir sind oder zu wissen, wer wir nicht mehr sind.
Aber gerade durch das Vergessen glaube ich, haben wir die Chance, etwas sanfter mit unserer Vorstellung einer ‚fixen‘ Identität zu sein. An alles kannst du dich nicht erinnern, dein Bild wird immer unvollständig sein. Die Kontrolle des Archivs, von der Derrida spricht, musst du nicht auf dein Leben beziehen. Vielleicht macht dich das frei, zu sein, wer du willst?
Daher ist das hier eine kleine Erinnerung, Dinge auch loszulassen. Beim nächsten Konzert will ich nicht wieder die Handykamera zücken, um den Moment festzuhalten, einzufangen; nicht wieder krampfhaft versuchen, ein Selfie mit meinem Neffen zu machen, den ich zu selten sehe.
Momente zu kurzfristigen Erinnerungen werden zu lassen, die irgendwann wieder verschwinden.
Vertrauen, dass die wichtigen Dinge bleiben.
Dieser Text ist aus einer Idee des einwortKollektivs entstanden. Das einwortKollektiv besteht aus sechs Autor*innen2, die sich alle zwei Monate von einem gemeinschaftlich bestimmten Wort inspirieren lassen. Diesen Monat ist es: vergessen. Folgt ihnen, um die weiteren Texte zu dem Thema nicht zu verpassen!
Danke an
für das wertschätzende Lektorat dieses Textes.Errl, Astrid (2017): Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen. Eine Einführung. J.B. Metzler.
Das einwortKollektiv besteht aus tollen Autor*innen, deren Newsletter ich sehr schätze, bzw. auf die ich sehr gespannt bin ;):
von : Newsletter über Feministisches, Medizinisches, Politiches und gelegentlich Literarsches. von : Gedanken und Notate über das Autorinnendasein, Feminismus, seelische Gesundheit uns das Leben in der Leistungsgesellschaft. von : Hier gibt es Künstlerisches und Persönliches zum Weiterdenken. notatka beschreibt das Leben und die Kunst im literarischen Essay. von : Hot und Cold Takes zur sogenannten Gegenwart. von : Hier drücke ich meine Liebe zur Sprache, Literatur und Fotografie aus.
Oh Gott, ich fühle deinen Text so sehr – ich habe am Wochenende meinen Oberstufenordner aus der 12. Klasse aus dem Schrank gezogen und meinem Mann gezeigt. Auch diesen Ordner ziert eine solche Identitätscollage unter Plastikfolie, in meinem Fall meines 19-jährigen Ichs. Ich habe sehr sehr viele Dinge im Laufe meiner zahllosen Umzüge weggeworfen, aber diesen Ordner nicht. Ihn zu sehen, berührt mich. Ich möchte nicht vergessen, wer ich damals war und was mir wichtig war – und wovon ich geträumt habe. Manches hat sich verändert, anderes gar nicht so sehr. Auf meinen Knien liegt übrigens gerade ein Buch übers Ausmisten nach Feng Shui. Ich lese es bereits zum zweiten Mal. Auch Marie Kondo hat es mit ihrem "does it spark joy" tief in mein Gehirn geschafft und geht oft mir mit durch die Wohnung. Und ich liebe es, alte Dinge zu verabschieden, weil ich körperlich spüre, wie erleichternd und befreiend das ist Aber manches bleibt. Genau wie du sagst, um zu wissen, wer man nicht mehr oder, in manchen Fällen, noch immer ist. Beides sind wertvolle Gefühle, finde ich :)